"Es gibt viel zu tun – hau’n wir ab." ist Intervention, gesellschaftliches Experiment und Ausstellungsprojekt zugleich. Der entscheidende Schauplatz von all dem bleibt physisch unzugänglich. Dichter Efeu hat sich bis in die dritte Etage vorgearbeitet und nahezu komplett die Fenster einer Chemnitzer Zweizimmerwohnung erobert. Ihr Bewohner ist seit langem verschwunden. Wie eine Zeitreise wirken Einblicke in die voll möblierten, unberührten Privaträume des Herrn U. Die spürbare Präsenz des Abwesenden jedoch erzeugt eine Intimität von solcher Heftigkeit, dass Neugier und Schuldgefühle beim Eindringen in die vergessene Wohnung unentwegt miteinander ringen. Im Dämmerlicht lässt sich erahnen, wie das dort geführte Leben ausgesehen haben muss: Liebevoll und verzweifelt zugleich erzählen eigenwillige Gegenstände, persönliche und bürokratische Korrespondenz, Arrangements aus Kitsch und klobiger Sachlichkeit eine Überlebensgeschichte der Nachwendezeit. Nichts weist darauf hin, wie die Fortsetzung gelaufen sein mag. Das Hab und Gut des ehemaligen Mieters ist so beiläufig angeordnet, als wollte er gleich zurückkommen. Doch als Herr U. an jenem unbestimmten Tag die Tür schliesst, hält die Zeit in seiner Wohnung an. Allmählich wächst nicht nur der Efeu, sondern auch das sprichwörtliche Gras über Mietschulden und Gerichtsbescheide. Eine leichte Staubschicht liegt über allem. Was kann der Grund sein, eine Wohnung so zu hinterlassen?

DIE UNTERSUCHUNG

Vom 04. bis 06. April 2014 stolpern die Jubiläumsgäste des Lokomov Chemnitz, die bis zu den Nebenräumen des Klubs vordringen, in eine bizarre Szenerie. Eine fest eingebaute, dominante Station, deren technische Ausstattung alle Möglichkeiten zur ferngesteuerten Untersuchung jener Wohnung bereithält, zieht mit neun verschiedenen Kamerabildern und der Steuerung eines Roboters Neugierige in ihren Bann. In der Grauzone zwischen futuristischer Innenarchitektur und profaner Arbeitsumgebung hergerichtet, lässt die Untersuchungszentrale keine eindeutigen Rückschlüsse auf mögliche Urheberinnen oder reguläre Angestellte zu. Während manche der unvorbereiteten Besucher zögerlich den Raum erkunden, erliegen andere unmittelbar der Sogwirkung der beinahe computerspielartigen Aktionsform. Ein Interface erlaubt Screenshots und fordert Beschreibungen der jeweiligen Funde und Emotionen der Teilnehmerinnen. Ihnen allein obliegt es, zu verhandeln und zu verantworten, ob und wie sie die Möglichkeiten für eine ferngesteuerte Untersuchung nutzen.
Im Laufe des Experiments treten die Künstler nur hinter den Kulissen auf: als Wartungspersonal in einem nicht-öffentlichen Kontrollraum sehen sie alle von den Nutzerinnen erzeugten Kamerabilder sowie die Bilder einer Überwachungskamera in der Untersuchungszentrale selbst. Sie speichern sämtliche Daten des Untersuchungszeitraums.

DIE VERHANDLUNG

Nach Abschluss des Experiments setzen die Autorinnen des Projekts die digitalen und physischen Materialien der Untersuchung für ihre künstlerische Weiterarbeit ein. Verschiedene Lesarten und individuelle Zugänge der Nutzerinnen zu der speziellen Situation in der Wohnung des Herrn U. spielen dabei ebenso eine Rolle wie die eigenen Empfindungen im Verlauf der doppelten Überwachung im Kontrollraum.

Die modifizierte Untersuchungsstation empfängt nun die Besucherinnen der Galerie Hinten. Von den Teilnehmern des Experiments dokumentierte und beschriebene Gegenstände aus der Wohnung des Herrn U. treten an Stelle der Monitore. Die ehemalige Tür zum Serverraum der Station eröffnet jetzt einen Raum hinter der Fassade der Untersuchungszentrale. Dem während einer Roboterfahrt umgerissenen Osterstrauß wird der entsprechende Kameramitschnitt gegenübergestellt. Ein anderer Screen vereint die seltsam ästhetischen Aufnahmen einer Roboterfahrt durch die jeweiligen Sichtfelder der stationär installierten IP-Kameras. Im letzten Raum befindet sich ein transferierter Teil des improvisierten Mobiliars des Kontrollraums. Auf den Monitoren läuft eine Doppelvideoinstallation eines Ausschnitts der parallelen Geschehnisse zwischen Untersuchungszentrale und Kontrollraum. Als Auftakt für die Verhandlung legen hier die Künstlerinnen Rechenschaft über ihr eigenes Handeln während der Untersuchung ab.

Trotz der NSA-Affäre ist das Ausmaß der technischen Überwachungsbilder für viele von uns immer noch nicht ausreichend nachvollziehbar. Nachbarschaft und Privatsphäre, Datenschutz und Überwachung sind Themen, deren zunehmende Präsenz uns auch gegen unseren Willen zur Reflektion und Positionierung zwingt. Diese Website dokumentiert die verschiedenen Stufen der künstlerischen Intervention „Es gibt viel zu tun – hau’n wir ab.“ über den Ausstellungszeitraum hinaus und führt die Verhandlung im digitalen Raum fort.

Zur Finissage am 03.05.2014 findet im Lokomov ein Diskussionsforum statt, bei dem die Künstler*innen, Initiatoren und die Aktivisten des Chaostreff Chemnitz Entstehung und Hintergründe des Projekts vorstellen und gemeinsam mit dem Publikum die Grenzen dieser experimentellen Intervention ausloten.

Alle Einzelheiten und Entwicklungsstufen des Projekts sowie Reflexionen über Empathie hinter technischen Filtern gibt es als Vortrag auf dem 31. Chaos Communication Congress  in Hamburg – hier als Video.


GEFÖRDERT DURCH
den Verfügungsfonds der Stadt Chemnitz im Fördergebiet Sonnenberg sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen



DANKE FÜR ALLES UND MEHR
Mandy Knospe, Lars Fassmann, Klub Solitaer, Chaostreff Chemnitz, Freifunk, Sublab Leipzig, Peter Domke, David Enke, Elke Koch, Joachim Knospe, Überflieger, Swetlana Epp, Christof Grumpelt, Roland Gaertner, Esther Gerstenberg, Mathilde Schliebe, Beate Müller und allen anderen helfenden Händen...

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